DER TAGESSPIEGEL (17. April 1999, S. 36)

Der Wettlauf mit dem Sprachensterben

Forscher mahnt zur Eile: Jeden Monat schwinden Worte und Wissen

VON THOMAS ROSER

LEIDEN. Von den 6000 Sprachen der Welt werden in hundert Jahren 90 Prozent verschwunden sein. Der niederländische Sprachwissenschaftler Frederik Kortlandt mahnt zur Eile im Wettlauf mit dem Sprachensterben, drängt auf eine rasche Dokumentation bedrohter Sprachen: Denn mit jeder ausgestorbenen Sprache verschwindet ein einzigartiger Wissens- und Kulturschatz.

Sprachen sind so vergänglich wie die Menschen. Die Bedeutung ausgestorbener Sprachen wie Ägyptisch, Sumerisch oder Phönezisch ist heute nur noch einigen Wissenschaftlern bekannt. Mehr als tausend Sprachen sind allein in den vergangenen 400 Jahren verschwunden. "Daß Sprachen aussterben, ist eine normale Entwicklung, die an sich nicht besorgniserregend ist," berichtet Frederik Kortlandt, international renommierter Professor für vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Leiden: "Aber in hundert Jahren werden rund 90 Prozent der 6000 derzeit noch existierenden Sprachen ausgestorben sein: Mit den Sprachen verschwinden nicht nur die Worte, sondern auch das Wissen um viele Dinge." Als Beispiel nennt der Niederländer den Regenwald, dessen Pflanzen ohne die einheimischen Indianersprachen schwer zu nutzen seien.

Kolonialisierung, Landflucht, die modernen Massenmedien, die Benachteiligung oder Verfolgung von Minderheiten haben in den letzten Jahrzehnten das Sprachensterben beschleunigt: Alle 14 Tage verschwindet weltweit eine Sprache. Mehr als die Hälfte der Menschheit spricht eine der großen elf Sprachen wie Chinesisch, Hindi, Englisch oder Spanisch. Hingegen gelten 90 Prozent aller Sprachen als bedroht, werden von weniger als hunderttausend Menschen gesprochen. "Manchmal sind es gerade noch zwei, drei Menschen, die einer Sprache mächtig sind," berichtet Kortlandt. Oft sei es verständlich, daß ganze Volksgruppen eine andere, stärker verbreitete Sprache "übernehmen", erläutert der 52jährige: "Leute erschließen sich damit ihre Umgebung, verbessern ihre Karrieremöglichkeiten." Doch mit der eigenen Sprache gingen kulturelle Eigenheiten und so auch ein Großteil der eigenen Identität verloren.

Aufzuhalten ist das Aussterben bedrohter Sprachen nach Ansicht von Kortlandt kaum. Doch er mahnt zur Eile, soviele wie möglich zu dokumentieren, anstatt viel Energie in die Erforschung ausgestorbener Sprachen zu investieren. "In hundert Jahren ist der Großteil der heutigen Sprachen verschwunden - und die meisten von ihnen haben nicht einmal Schriftzeichen." Die Erforschung sei notwendig, weil die Geschichte der Sprachen und ihre Beziehungen zueinander auch die Entwicklung von Zivilisationen erkläre. Der "Erfolg" einer Sprache habe immer politische oder ökonomische Ursachen: "Der Siegeszug der indogermanischen Sprachen begann beispielsweise mit der Domestizierung des Pferdes, die erst deren Verbreitung ermöglichte."

Die Erforschung einer vom Aussterben bedrohten Sprache ist schwer. Manchmal seien die letzten Sprecher einer Sprache erst in tagelangen Fußmärschen zu erreichen, berichtet Kortlandt. "Es ist nicht immer ein Spaß, wochenlang in einem abgelegenen Himalaya-Tal zu verbringen." Ein mitgebrachtes Schwein, die Mitarbeit auf dem Feld und das Vermögen, zuzuhören und sich in eine völlig fremde Kultur einleben zu können, erleichterten den Zugang zu mißtrauischen Vertretern einer untergehenden Sprachkultur: "Manche Leute berichten ungeheuer stolz über ihre Sprache. Andere sind skeptisch, glauben, daß die Weißen ihnen nun auch noch ihre Sprache wegnehmen wollen."

Rund acht Jahre seien nötig, um eine Sprache zu dokumentieren: Notgedrungen müsse man sich auf die Erforschung strategisch wichtiger Schlüsselsprachen begrenzen. "Arbeit gibt's genug, Geld dafür kaum", sagt Kortlandt. Unüberhörbar ist das Bedauern, wenn er vom "totalen Unwissen" über das Problem berichtet. Sprachen könne man weder fühlen noch sehen, erklärt er das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit: "Die Überreste von Tieren und Pflanzen kann man sammeln, Akkustik hingegen verfliegt. Stirbt eine undokumentierte Sprache, ist sie für immer weg."

 

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